Wenn das Gedankenkreisen nicht aufhören will: Die Rolle des Default Mode Networks in der Verhaltenstherapie

  • 9:55 min

  • 28 Juni 2025
  • Helmut Wiederschwinger

Einführung: Was ist das Default Mode Network?

Das Default Mode Network, kurz DMN, zählt zu den faszinierendsten Entdeckungen der modernen Hirnforschung. Es handelt sich um ein Netzwerk miteinander verbundener Hirnregionen, das besonders aktiv wird, wenn wir nicht auf konkrete Aufgaben fokussiert sind. Unser Gehirn schaltet dann keineswegs ab. Die Regionen des DMN arbeiten stattdessen auf Hochtouren, während wir tagträumen, über uns selbst nachdenken oder in Erinnerungen schwelgen.

Hauptsächlich umfasst das DMN den medialen präfrontalen Kortex, den posterioren cingulären Kortex und Teile des Parietallappens. Seine Entdeckung hat unser Verständnis davon revolutioniert, wie das Gehirn in scheinbaren Ruhephasen arbeitet und welche Bedeutung diese vermeintliche “Leerlaufaktivität” für unsere psychische Gesundheit hat.

Besonders bemerkenswert ist die zunehmend akzeptierte Hypothese, dass das DMN die neurologische Grundlage für unser psychologisch definiertes Selbst darstellt. Diese Idee revolutioniert unser Verständnis vom menschlichen Bewusstsein. Wenn wir über unsere persönliche Identität nachdenken, Erinnerungen abrufen oder uns in die Zukunft projizieren – all das aktiviert das DMN. Neurowissenschaftler beobachten eine auffällige Übereinstimmung zwischen DMN-Aktivierung und selbstbezogenen mentalen Prozessen. Der mediale präfrontale Kortex, eine Schlüsselkomponente des DMN, zeigt besonders starke Aktivierung bei Aufgaben, die Selbstreflexion erfordern.

Psychische Erkrankungen mit DMN-Beteiligung

Bei Depression zeigen sich typische Veränderungen im DMN. Betroffene erleben oft, dass ihr DMN hartnäckig aktiv bleibt, selbst wenn eigentlich andere Netzwerke die Kontrolle übernehmen sollten. Das erklärt teilweise die quälenden Grübelschleifen, die für Depression so charakteristisch sind. Die Schwere der depressiven Symptome korreliert häufig mit dem Ausmaß der DMN-Überaktivität.

Menschen mit Angststörungen weisen ebenfalls DMN-Auffälligkeiten auf. Die Forschung zeigt eine verstärkte Verbindung zwischen dem DMN und emotionsverarbeitenden Hirnregionen wie der Amygdala. Das Ergebnis ist eine überhöhte Selbstaufmerksamkeit. Der Fokus liegt dabei meist auf bedrohlichen Reizen und negativen Selbstbewertungen, was den Teufelskreis der Angst am Laufen hält.

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung finden wir ein gestörtes Zusammenspiel des DMN mit dem Salienz-Netzwerk. Dieses Netzwerk bestimmt normalerweise, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Traumatisierte bleiben oft in belastenden Erinnerungen gefangen. Neurobiologisch zeigt sich das als mangelnde Flexibilität zwischen dem DMN und jenen Netzwerken, die für aufgabenbezogenes Denken zuständig sind.

Zwangsstörungen zeigen ein besonders interessantes Muster im Gehirn. Hier sehen Wissenschaftler eine übermäßige Verbindung zwischen dem DMN und dem Striatum. Diese Hirnregion spielt eine zentrale Rolle bei der Bildung von Gewohnheiten und zwanghaften Verhaltensweisen. Diese neuronale Verknüpfung könnte erklären, warum negative Selbstbewertungen so leicht zu ritualisiertem Zwangsverhalten führen.

Das Bild bei ADHS unterscheidet sich deutlich. Hier finden wir eine Unteraktivität und mangelnde Kohärenz des DMN. Das passt zur klinischen Beobachtung, dass Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben, ihre Gedanken zu organisieren und längere Zeit bei einer Sache zu bleiben.

Das DMN als Verstärker psychischer Probleme

Die Art, wie das DMN zur Entstehung und Verfestigung psychischer Probleme beiträgt, ist vielschichtig. Ein überaktives DMN dient als neurobiologische Grundlage für endloses Grübeln. Menschen mit überschießender DMN-Aktivität bleiben häufig in Gedankenschleifen stecken. Diese kreisen typischerweise um Sorgen, Selbstkritik oder vergangene negative Erlebnisse.

Das DMN spielt eine zentrale Rolle bei Prozessen der Selbstwahrnehmung. Bei psychisch erkrankten Menschen nimmt diese Selbstbetrachtung jedoch oft negative Züge an. Sie verbringen viel Zeit damit, über vermeintliche eigene Unzulänglichkeiten nachzudenken. Diese ständige Beschäftigung mit dem Selbst, besonders durch einen negativen Filter betrachtet, verstärkt depressive und ängstliche Zustände erheblich.

Auch die zeitliche Ausrichtung des DMN verdient Beachtung. Es wird besonders aktiv, wenn wir über Vergangenes grübeln oder Zukunftsszenarien durchspielen. Depressive Menschen versinken häufig in Erinnerungen an frühere Misserfolge. Bei Menschen mit Angststörungen überwiegen Sorgen über künftige Bedrohungen. In beiden Fällen trägt das DMN dazu bei, negative Zeitperspektiven zu verfestigen, was die emotionale Belastung weiter verstärkt.

Der Dialog mit emotionsverarbeitenden Systemen ist ebenfalls wichtig. Ein überschießendes DMN kann die Aktivität der Amygdala anheizen. Das führt zu einer gesteigerten emotionalen Reaktivität. Dies erklärt, warum selbstbezogene Gedanken bei psychischen Erkrankungen oft mit intensiven negativen Gefühlen einhergehen.

Übertontes DMN: Wenn das Gedankenkarussell nicht stoppt

Ein hyperaktives DMN kann verschiedene Gesichter haben. Manche Betroffene erleben einen quasi ununterbrochenen inneren Dialog. Die Gedanken rasen und finden keine Ruhe. Diese Überaktivität macht sich besonders nachts bemerkbar. Einschlafprobleme sind hier eine häufige Folge.

Die Verbindungen innerhalb des DMN können ebenfalls ungewöhnlich stark sein. Das bedeutet, dass die verschiedenen Regionen des Netzwerks mit hoher Synchronität arbeiten. Diese verstärkte Kommunikation macht selbstbezogene Gedanken hartnäckiger und erschwert den Wechsel zu anderen Denkformen erheblich.

Besonders problematisch wird es, wenn ein überaktives DMN nicht angemessen herunterreguliert werden kann. Gerade wenn Aufgaben volle Konzentration erfordern, sollte das DMN in den Hintergrund treten. Funktioniert das nicht, entstehen Aufmerksamkeitsdefizite und Konzentrationsprobleme. Die kognitive Leistungsfähigkeit im Alltag sinkt. Das wiederum befeuert negative Selbstbewertungen.

Studien mit erfahrenen Meditierenden zeigen spannende Ergebnisse. Diese Menschen können ihre DMN-Aktivität willentlich reduzieren. Das geht mit gesteigerter mentaler Klarheit und besserem emotionalem Wohlbefinden einher. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation des DMN lässt sich offenbar durch regelmäßige Achtsamkeitspraxis trainieren. Deshalb ist das Achtsamkeitstraining nicht selten ein wichtiger Bestandteil innerhalb der kognitiven Verhaltenstherapie.

Das DMN und seine Gegenspieler: Ein dynamisches Gleichgewicht

Im gesunden Gehirn herrscht ein dynamisches Wechselspiel zwischen verschiedenen neuronalen Netzwerken. Das DMN steht dabei in einer gegenläufigen Beziehung zu den sogenannten aufgabenpositiven Netzwerken. Dazu gehören insbesondere das Central Executive Network (CEN) und das Salience Network (SN). Diese Netzwerke hemmen sich gegenseitig. Ist eines aktiv, wird das andere unterdrückt.

Das Central Executive Network springt an, wenn wir fokussierte Aufmerksamkeit benötigen. Es umfasst Bereiche des dorsolateralen präfrontalen Kortex und des parietalen Kortex. Dieses Netzwerk ist entscheidend für Problemlösung, Entscheidungsfindung und kognitive Kontrolle. Ein gesundes Gehirn wechselt flexibel zwischen DMN- und CEN-Dominanz, je nach Anforderung der Situation.

Das Salience Network funktioniert wie ein Weichensteller zwischen diesen Netzwerken. Es bewertet eingehende Reize nach ihrer Bedeutsamkeit und entscheidet, ob das DMN deaktiviert und das CEN eingeschaltet werden soll. Bei vielen psychischen Erkrankungen ist genau dieser Umschaltmechanismus gestört.

Bei Depressionen dominiert oft das DMN, selbst wenn die Situation eigentlich eine Aktivierung des CEN erfordern würde. Der nötige Wechsel zwischen den Netzwerken erfolgt verzögert oder unvollständig. Die Betroffenen bleiben in selbstbezogenen Gedanken gefangen, anstatt sich wirksam mit äußeren Anforderungen auseinanderzusetzen.

Forschungsergebnisse zeigen, dass erfolgreiche Therapien genau diese Netzwerkdynamik positiv beeinflussen können. Kognitive Verhaltenstherapie und Achtsamkeitstraining verbessern offenbar die Flexibilität zwischen DMN und CEN. Sie fördern eine gesündere Balance zwischen nach innen gerichteter Reflexion und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit.

DMN-Regulation als therapeutisches Ziel

Die Normalisierung der DMN-Aktivität kann ein wichtiges Therapieziel sein. Achtsamkeitsübungen haben sich als besonders wirksam erwiesen. Sie trainieren die Fähigkeit, Gedanken zu beobachten, ohne sich in ihnen zu verlieren. Das führt nachweislich zu einer Dämpfung der DMN-Überaktivität und verbessert den Wechsel zwischen verschiedenen Hirnnetzwerken.

Die kognitive Umstrukturierung zielt direkt auf die Inhalte ab, die im DMN verarbeitet werden. Wir hinterfragen und verändern dabei dysfunktionale Überzeugungen. Dadurch ändert sich nicht nur, was wir denken, sondern auch wie unser Gehirn arbeitet. Bildgebende Studien zeigen, dass erfolgreiches kognitives Umstrukturieren mit einer normalisierten DMN-Funktion einhergeht.

Auch Verhaltensaktivierung wirkt auf das DMN ein. Wir ermutigen Patienten, sich mit bedeutsamen Aktivitäten zu beschäftigen. Dadurch werden aufgabenorientierte Netzwerke aktiviert, was automatisch zu einer Dämpfung der DMN-Aktivität führt. Das erklärt teilweise, warum Aktivierung so gut gegen Grübeln und Rumination hilft.

Körperliche Bewegung beeinflusst die DMN-Funktion ebenfalls positiv. Regelmäßiger Sport verbessert die Verbindungen innerhalb des DMN und fördert gleichzeitig die Flexibilität zwischen verschiedenen Netzwerken. Dieser neurobiologische Effekt trägt vermutlich zur stimmungsaufhellenden Wirkung von Bewegung bei.

Gesunder Schlaf spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Während des Tiefschlafs wird das DMN herunterreguliert. Das trägt zur nächtlichen “Neujustierung” der Netzwerkdynamik bei. Schlafprobleme hingegen können zu anhaltender DMN-Überaktivität führen und damit psychische Beschwerden verstärken.

DMN-basierte Interventionen in der kognitiven Verhaltenstherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie kann gezielt auf DMN-bezogene Prozesse einwirken. Besonders relevant sind metakognitive Techniken. Sie helfen Patienten, eine beobachtende Haltung gegenüber ihren Gedanken einzunehmen. Statt sich vollständig mit den Gedanken zu identifizieren, lernen sie Distanz zu wahren. Diese Distanzierung reduziert die emotionale Reaktivität und unterbricht die übermäßige DMN-Aktivierung bei selbstbezogenem Grübeln.

Die kognitive Defusion aus der Akzeptanz- und Commitmenttherapie passt gut zu unserem Verständnis des DMN. Durch Defusionsübungen lernen Patienten, Gedanken als mentale Ereignisse zu betrachten. Sie sind nicht die absolute Wahrheit. Neurobiologisch führt dies zu einer veränderten DMN-Aktivierung und schwächt die Verbindung zwischen selbstbezogenen Gedanken und emotionalen Reaktionen.

Expositionsverfahren wirken wahrscheinlich teilweise über die Beeinflussung der DMN-Aktivität. Wenn sich Patienten gefürchteten Situationen stellen, richtet sich ihre Aufmerksamkeit nach außen. Aufgabenorientierte Netzwerke werden aktiviert. Das durchbricht die vom DMN dominierte Grübelschleife und fördert neue, hilfreichere neuronale Verbindungen.

Die Integration von Achtsamkeit in die klassische KVT hat sich als besonders wirksam erwiesen. Die achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie kombiniert bewährte kognitive Techniken mit systematischem Achtsamkeitstraining. Die daraus resultierende verbesserte DMN-Regulation erklärt vermutlich die hohe Wirksamkeit dieses Ansatzes bei der Rückfallvorbeugung von Depressionen.

Praktische Übungen zur DMN-Regulation im Alltag

Die Integration von alltagstaugliche Übungen zur DMN-Regulation kann sich sehr positiv auswirken. Kurze Achtsamkeitsübungen sind besonders hilfreich. Mehrmals täglich durchgeführt, können sie viel bewirken. Schon ein bewusstes Fokussieren auf den Atem für 1-2 Minuten kann die DMN-Aktivität dämpfen und eine mentale “Neuausrichtung” ermöglichen.

Das Einüben eines “Gedankenstopps” mit anschließendem Fokus auf die Umgebung kann grüblerische Gedankenspiralen unterbrechen. Dies ist ein Teil von Achtsamkeitstraining, wobei wir die Aufmerksamkeit nicht nach innen, sondern beim ersten Anzeichen von Grübeln gezielt auf äußere Reize lenken: Auf das Wahrnehmen von Geräuschen, visuellen Eindrücken oder taktilen, körperlichen Empfindungen.

Regelmäßige Bewegung gehört ebenfalls zu den wirksamsten Methoden. Besonders hilfreich sind Aktivitäten, die volle Aufmerksamkeit erfordern. Tanzen, Kampfsport oder komplexere Teamsportarten eignen sich hervorragend. Sie fördern nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern trainieren auch den flexiblen Wechsel vom DMN-dominierten Denken in einen aufgabenorientierten Zustand.

Das bewusste Lenken von Tagträumen kann die Qualität der DMN-Aktivität positiv beeinflussen. Anstatt in negativen Grübeleien zu versinken, üben wir, unsere Gedanken auf positive Zukunftsbilder zu richten. Auch kreative Ideen oder schöne Erinnerungen kommen in Frage. Dies nutzt die Stärken des DMN für das psychische Wohlbefinden.

Soziale Kontakte spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Tiefgründige Gespräche aktivieren sowohl DMN-Komponenten als auch sozial-kognitive Netzwerke. Das fördert eine gesündere Netzwerkdynamik im Gehirn. Dies könnte erklären, warum gute soziale Einbindung vor vielen psychischen Erkrankungen schützt.

Fazit: Das DMN als therapeutischer Kompass

Die Erforschung des Default Mode Network hat unser Verständnis psychischer Erkrankungen grundlegend verändert. Wir verstehen heute besser, warum manche Menschen in Gedankenspiralen gefangen bleiben. Die DMN-Forschung erklärt, warum bestimmte therapeutische Methoden wirken. Sie liefert eine neurobiologische Erklärung für viele klinische Phänomene, die Therapeuten täglich beobachten und viele Patienten schmerzhaft erleben müssen.

Die Einbeziehung dieses Wissens in die kognitive Verhaltenstherapie ermöglicht einen hirngerechteren Behandlungsansatz. Wir gehen damit über bloße Symptombekämpfung hinaus. Durch gezielte Interventionen können wir die Netzwerkdynamik des Gehirns positiv beeinflussen und nachhaltige Veränderungen anstoßen.

Es geht nicht nur um den Inhalt der Gedanken. Auch die Art des Denkens spielt eine zentrale Rolle. Können wir flexibel zwischen verschiedenen kognitiven Modi wechseln? Oder bleibt wir in DMN-dominierter Rumination gefangen?

Für Patienten bietet das DMN-Wissen eine entlastende Perspektive. Zu erkennen, dass Grübeln und negative Selbstbezogenheit neurobiologische Wurzeln haben, kann Selbstvorwürfe mildern. Denn die Motivation für therapeutische Übungen steigt, wenn deren Wirkmechanismen verständlich werden.

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