Die Biologie hinter der Zwangsstörung

  • 5:11 min

  • 25 Mai 2025
  • Helmut Wiederschwinger

Wenn die EMOTIO die RATIO im Gehirn überstimmt – Ein Blick ins Innere

Kennen Sie das Gefühl, wenn ein Gedanke einfach nicht mehr loslässt? Wenn ein innerer Drang so stark wird, dass man ihm nachgeben muss, obwohl ein Teil von einem genau weiß, dass es eigentlich keinen Sinn ergibt? Menschen mit einer Zwangsstörung erleben diesen inneren Kampf oft täglich, und er kann das Leben massiv beeinträchtigen. Heute wollen wir gemeinsam einen Blick darauf werfen, was dabei im Gehirn passiert, und zwar mit Hilfe zweier hilfreicher Konzepte: unserer inneren EMOTIO und unserer RATIO.

EMOTIO und RATIO: Unsere zwei inneren Berater

Stellen Sie sich vor, in Ihrem Kopf gibt es zwei Systeme, die ständig miteinander kommunizieren.

  • EMOTIO: Das ist unser schnelles, intuitives und emotionales System. Es reagiert blitzschnell auf Reize, oft unbewusst. Es ist unser Bauchgefühl, unsere spontanen Impulse, unsere Ängste, aber auch unsere Freude. EMOTIO ist überlebenswichtig, denn es warnt uns vor Gefahren und lässt uns schnell handeln.
  • RATIO: Das ist unser langsames, abwägendes und logisches System. Es tritt auf den Plan, wenn wir bewusst nachdenken, planen, komplexe Probleme lösen oder Impulse kontrollieren. RATIO braucht Anstrengung und Konzentration.

Im Idealfall arbeiten EMOTIO und RATIO gut zusammen. EMOTIO gibt einen ersten Impuls (“Achtung, Spinne!”), und RATIO prüft (“Okay, ist nur eine kleine Hausspinne, keine Gefahr.”). Bei einer Zwangsstörung gerät dieses Zusammenspiel jedoch aus dem Gleichgewicht.

Wenn die EMOTIO bei Zwangsstörungen das Ruder übernimmt

Bei Menschen mit Zwangsstörungen scheint die EMOTIO oft übermächtig zu werden. Ein eigentlich harmloser Gedanke oder eine vage Befürchtung (“Habe ich den Herd wirklich ausgemacht?”) wird von der EMOTIO als akute Bedrohung eingestuft. Es schlägt Alarm, löst intensive Angst und Anspannung aus. Diese Gefühle sind so überwältigend, dass die RATIO, unsere logische Instanz, kaum noch eine Chance hat, dagegen anzukommen. Die RATIO mag vielleicht leise flüstern: “Du hast doch schon dreimal nachgesehen, es ist alles in Ordnung.” Aber die laute, panische Stimme von der EMOTIO übertönt alles: “Was, wenn doch etwas passiert? Die Anspannung ist unerträglich!”

Um diese quälende Anspannung zu reduzieren, entsteht der starke Drang, eine Zwangshandlung auszuführen – das Kontrollieren, Waschen, Ordnen. Die Handlung verschafft kurzfristig Erleichterung, weil die EMOTIO vorübergehend beruhigt wird. Doch langfristig verstärkt dies den Kreislauf, denn die RATIO lernt nicht, dass die Angst auch ohne die Handlung nachlassen würde.

Ein Blick ins Gehirn: Die Basalganglienschleife (kortiko-striato-thalamo-kortikale Schleife)

Im Gehirn gibt es ein komplexes Netzwerk von Hirnbereichen, das für die Planung und Ausführung von Handlungen, aber auch für die Verarbeitung von Gedanken und Emotionen zuständig ist. Man nennt es die Basalganglienschleife, kurz KSTK-Schleife. Stellen Sie sich diese Schleife wie ein ausgeklügeltes Regelsystem vor, das normalerweise dafür sorgt, dass wir angemessen auf unsere Umwelt reagieren.

Diese KSTK-Schleife hat zwei wichtige Pfade:

  1. Der direkte Pfad (das “Gaspedal”): Dieser Pfad wirkt eher aktivierend und fördert Handlungen oder Gedanken. Er sagt quasi: “Los geht’s!”
  2. Der indirekte Pfad (die “Bremse”): Dieser Pfad wirkt eher hemmend und unterdrückt unerwünschte oder gerade nicht passende Handlungen und Gedanken. Er sagt: “Stopp, das brauchen wir jetzt nicht!”

Was ist bei Zwangsstörungen in dieser Schleife anders?

Die Forschung deutet darauf hin, dass bei einer Zwangsstörung das Gleichgewicht in dieser KSTK-Schleife gestört ist. Vereinfacht gesagt:

  • Das Gaspedal (direkter Pfad) ist überaktiv: Es gibt zu viele aktivierende Signale. Gedanken und Impulse werden verstärkt und drängen sich immer wieder auf.
  • Die Bremse (indirekter Pfad) ist zu schwach: Sie kann die überaktiven Signale nicht mehr ausreichend dämpfen.

Stellen Sie sich vor, eine beängstigende Gedankeneinheit, eine typische Zwangsbefürchtung, gerät in diesen überaktiven direkten Pfad. Dort dreht sie sich wie in einer Endlosschleife, wird immer stärker und präsenter. Die “Bremse” ist nicht stark genug, um diesen Prozess zu stoppen.

Ein wichtiger Teil dieses Systems ist das Pallidum internum. Es hat normalerweise eine hemmende Wirkung auf eine andere Hirnregion, den Thalamus. Der Thalamus ist so etwas wie eine zentrale Schaltstelle, die Informationen an die Hirnrinde (unser Denkzentrum) weiterleitet. Wenn nun, wie bei der Zwangsstörung, die hemmenden Einflüsse auf das Pallidum internum durch den überaktiven direkten Pfad überwiegen, wird dessen Bremswirkung auf den Thalamus reduziert. Die Folge: Der Thalamus wird “enthemmt” und feuert übermäßig viele Signale an die Hirnrinde.

Der Teufelskreis der Anspannung und die Rolle von Dopamin

Dieser “Aufschaukelungsprozess” innerhalb der direkten Schleife führt zu der enormen inneren Anspannung, die Betroffene erleben. Die Anspannung steigt und steigt, bis sie subjektiv unerträglich wird. Die einzige Möglichkeit, diese Anspannung kurzfristig zu reduzieren, scheint die Ausführung der Zwangshandlung zu sein.

Interessanterweise könnte hier der Botenstoff Dopamin eine Rolle spielen. Man vermutet, dass die Zwangshandlung ein dopaminerges Signal auslöst. Dieses Signal könnte vorübergehend für einen kurzen Ausgleich der Dysbalance in der KSTK-Schleife sorgen – die Anspannung lässt nach. Die EMOTIO ist kurz besänftigt. Doch das ist trügerisch, denn sobald ein neuer Gedanke oder eine neue Befürchtung in den Kreislauf eingespeist wird oder der Prozess von selbst wieder beginnt, startet der Aufschaukelungsprozess von Neuem. Die Zwangshandlung hat das Problem nicht gelöst, sondern nur kurz unterbrochen und den Kreislauf möglicherweise sogar verstärkt.

Was bedeutet das für die Therapie?

Dieses Wissen über die neurobiologischen Vorgänge ist unglaublich wertvoll. Es zeigt uns:

Zwangsstörungen sind keine Charakterschwäche, sondern eine Erkrankung mit einer biologischen Grundlage. Das Gehirn funktioniert anders, aber es ist veränderbar! Menschen mit Zwangsstörungen sind nicht willensschwach oder “verrückt” Diese Erkenntnis kann sowohl für Betroffene als auch für ihre Angehörigen sehr entlastend sein.

Therapie kann helfen, dieses Ungleichgewicht wieder zu regulieren. Insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement, manchmal auch in Kombination mit Medikamenten, zielt darauf ab, die Macht von EMOTIO zu reduzieren und RATIO zu stärken. Man lernt, die Anspannung auszuhalten, ohne die Zwangshandlung auszuführen. Dadurch kann das Gehirn neue Erfahrungen machen und lernen, dass die befürchteten Katastrophen nicht eintreten. Die “Bremse” wird trainiert und das “Gaspedal” weniger empfindlich.

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