Wie entstehen Gefühle und wie können wir diese ändern: Die Einschätzungstheorien

  • 8:51 min

  • 26 Juni 2025
  • Helmut Wiederschwinger

Warum ohne Bewertung keine Gefühle entstehen können

In jedem Moment unseres Lebens erleben wir eine Vielzahl von Emotionen – von flüchtiger Irritation bis zu überwältigender Freude, von sanfter Melancholie bis zu tiefgreifender Trauer. Doch wie entstehen diese Gefühle? Was veranlasst uns, in einer bestimmten Situation Angst zu empfinden und in einer anderen Situation Begeisterung? Die Antwort auf diese Frage führt uns zu einer der faszinierendsten Erkenntnisse der modernen Emotionspsychologie: Gefühle entstehen nicht direkt durch äußere Ereignisse, sondern durch die Art und Weise, wie wir diese Ereignisse einschätzen und bewerten.

Die fundamentale These der Einschätzungstheorien

Die Kernthese der Einschätzungstheorien (Appraisal Theories) lautet: Ohne eine explizite(bewusste) oder implizite (unbewusste) Einschätzung eines Ereignisses können keine Emotionen auftreten. Diese zunächst einfach erscheinende Aussage hat tiefgreifende Implikationen für unser Verständnis menschlicher Emotionen und hat die psychologische Forschung und psychotherapeutische Praxis nachhaltig geprägt.

Die historischen Wurzeln dieser Erkenntnis reichen zurück bis zu Aristoteles’ Rhetorik, fanden jedoch ihre moderne Formulierung erst im 20. Jahrhundert durch Pioniere wie Magda Arnold und Richard Lazarus. Lazarus’ bahnbrechende Forschung in den 1960er Jahren demonstrierte, dass identische Stimuli – etwa ein Film mit verstörenden Szenen – völlig unterschiedliche emotionale Reaktionen auslösen können, je nachdem, welcher interpretierende Kontext bereitgestellt wurde.

Der Bewertungsprozess: Vom Reiz zur Emotion

Betrachten wir ein alltägliches Beispiel: Zwei Personen hören plötzlich ein lautes Knallgeräusch. Die erste Person interpretiert es als Feuerwerk und empfindet Freude und Aufregung. Die zweite Person, die kürzlich ein traumatisches Erlebnis mit Schusswaffen hatte, interpretiert dasselbe Geräusch als potenzielle Gefahr und empfindet intensive Angst. Obwohl der Stimulus – das Knallgeräusch – identisch ist, unterscheiden sich die emotionalen Reaktionen fundamental, weil die kognitive Einschätzung unterschiedlich ausfällt.

Der Bewertungsprozess läuft typischerweise in mehreren Schritten ab, wie Klaus Scherer in seinem Komponenten-Prozess-Modell beschreibt:

  1. Relevanz-Prüfung: Ist dieses Ereignis für mich bedeutsam?
  2. Konsequenz-Prüfung: Welche Folgen hat dieses Ereignis für mein Wohlbefinden und meine Ziele?
  3. Bewältigungs-Prüfung: Kann ich mit diesen Konsequenzen umgehen?
  4. Normative Signifikanz-Prüfung: Wie passt dieses Ereignis zu meinen Werten und meinem Selbstbild?

Diese Bewertungsprozesse können sowohl bewusst als auch unbewusst ablaufen. Ein komplexes Wechselspiel zwischen beiden Ebenen bestimmt letztendlich die emotionale Reaktion.

Das Kontinuum von unbewussten zu bewussten Bewertungen

Eine der faszinierendsten Erkenntnisse der modernen Emotionsforschung ist das Verständnis, dass Bewertungsprozesse auf einem Kontinuum von völlig unbewussten bis hin zu vollkommen bewussten Prozessen existieren. Diese Erkenntnis wurde durch neurowissenschaftliche Forschung erheblich gestärkt.

Unbewusste Bewertungsprozesse erfolgen blitzschnell, automatisch und ohne willentliche Kontrolle. Joseph LeDoux beschrieb in seinen Studien zur Angstkonditionierung einen “schnellen Weg” der Emotionsverarbeitung, bei dem Reize direkt über den Thalamus zur Amygdala geleitet werden, ohne eine detaillierte Verarbeitung im Kortex zu durchlaufen. Diese Art der Bewertung ist evolutionsgeschichtlich alt und dient dem schnellen Reagieren auf potenzielle Gefahren.

Ein Beispiel: Wenn Sie beim Wandern plötzlich etwas Schlangenähnliches am Wegesrand wahrnehmen, kann Ihr Körper bereits mit Schreckreaktion und erhöhter Herzfrequenz reagieren, bevor Sie bewusst erkannt haben, worum es sich handelt. Millisekunden später stellen Sie möglicherweise fest, dass es nur ein Ast war – doch die erste emotionale Reaktion war bereits in Gang gesetzt.

Bewusste Bewertungsprozesse hingegen involvieren höhere kognitive Funktionen und finden primär im präfrontalen Kortex statt. Sie sind langsamer, dafür aber differenzierter und kontextbezogener. Sie ermöglichen komplexe emotionale Reaktionen wie Stolz, Scham oder Schuld, die ein bewusstes Selbstverständnis und eine Bewertung im Kontext sozialer Normen voraussetzen.

Beispiel: Eine Professorin erhält die Nachricht, dass ihr Forschungsantrag abgelehnt wurde. Ihre unmittelbare unbewusste Reaktion könnte Enttäuschung sein. Durch bewusste Reflexion könnte sie jedoch zu dem Schluss kommen, dass die Ablehnung wertvolles Feedback enthält und eine Chance zur Verbesserung darstellt, was ihre emotionale Reaktion in Richtung Akzeptanz und Entschlossenheit verschiebt.

Das Zusammenspiel von Bewertungsebenen

Diese verschiedenen Bewertungsebenen interagieren kontinuierlich miteinander. Unbewusste Bewertungen der EMOTIO liefern schnelle erste Reaktionen, die dann durch bewusstere Prozesse der RATIO modifiziert, verstärkt oder abgeschwächt werden können. Diese Interaktion erklärt, warum wir manchmal emotionale Reaktionen haben, die wir nicht sofort verstehen oder die im Widerspruch zu unseren bewussten Überzeugungen stehen.

Nehmen wir das Beispiel einer Flugreisenden mit Flugangst. Auf der bewussten Ebene weiß sie genau, dass Fliegen statistisch gesehen sehr sicher ist. Dennoch kann die unbewusste Bewertung des engen Raumes, der Kontrollabgabe und der Höhe starke Angstsymptome auslösen. Diese Diskrepanz zwischen bewusster Bewertung (“Ich bin sicher”) und unbewusster Bewertung (“Ich bin in Gefahr”) führt zu einem inneren Konflikt, der die Angst noch verstärken kann.

Die neurokognitive Forschung zeigt, dass der präfrontale Kortex – zuständig für bewusste Bewertungen – regulierend auf die Amygdala einwirken kann, die maßgeblich an unbewussten emotionalen Reaktionen beteiligt ist. Diese “Top-down”-Regulation erklärt, warum kognitive Therapieansätze wirksam sein können: Sie verändern bewusste Bewertungsmuster, die mit der Zeit auch unbewusste Prozesse beeinflussen können.

Die neurokognitive Forschung zeigt, dass der präfrontale Kortex – zuständig für bewusste Bewertungen – regulierend auf die Amygdala einwirken kann, die maßgeblich an unbewussten emotionalen Reaktionen beteiligt ist. Diese “Top-down”-Regulation erklärt, warum kognitive Therapieansätze wirksam sein können: Sie verändern bewusste Bewertungsmuster, die mit der Zeit auch unbewusste Prozesse beeinflussen können. Allerdings belegen neurowissenschaftliche Studien eine deutliche Asymmetrie in dieser wechselseitigen Beziehung, die erklärt, warum emotionale Veränderungen oft so langwierig und herausfordernd sind.

Scheinbare Ausnahmen und ihre Erklärung

Obwohl die These “keine Emotion ohne Bewertung” in der modernen Psychologie gut etabliert ist, werden regelmäßig potenzielle Gegenbeispiele angeführt. Bei näherer Betrachtung lassen sich diese jedoch meist als Varianten von Bewertungsprozessen verstehen:

1. “Primitive” oder reflexartige emotionale Reaktionen

Manche argumentieren, dass beispielsweise der Schreck beim plötzlichen Erscheinen eines Objekts ohne vorherige Bewertung erfolgt. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen jedoch, dass selbst hier eine ultraschnelle unbewusste Bewertung des Reizes als “unerwartet” und “potenziell bedrohlich” stattfindet – wenn auch auf einer sehr basalen Ebene.

2. Chemisch induzierte Emotionen

Ein weiterer Einwand bezieht sich auf Emotionen, die durch chemische Substanzen wie Alkohol oder bestimmte Medikamente ausgelöst werden. Tatsächlich verändern diese Substanzen jedoch primär die Bewertungsprozesse selbst, indem sie beispielsweise die Schwelle für negative Bewertungen erhöhen (wie bei Anxiolytika) oder die Aktivität präfrontaler Regionen reduzieren, die für die Emotionsregulation zuständig sind.

3. Stimmungen ohne erkennbaren Auslöser

Stimmungen wie eine diffuse Traurigkeit oder grundlose Heiterkeit scheinen manchmal ohne klaren Auslöser aufzutreten. Psychologische Forschung legt jedoch nahe, dass auch hier oft unbewusste Bewertungen eine Rolle spielen – etwa die implizite Erinnerung an vergangene Ereignisse, subtile Umwelteinflüsse oder physiologische Zustände, die unbewusst als positiv oder negativ bewertet werden.

Ein anschauliches Beispiel: Eine Person wacht morgens mit gedrückter Stimmung auf, ohne einen offensichtlichen Grund dafür zu erkennen. Eine genauere Betrachtung könnte offenbaren, dass die Lichtveränderung während der Jahreszeit unbewusst als “bedrohlich” bewertet wird (Winterdepression), oder dass der Jahrestag eines vergessenen, aber emotional bedeutsamen Ereignisses implizit eine Rolle spielt.

4. Emotion durch körperliche Rückkopplung

Die Facial-Feedback-Hypothese postuliert, dass bereits das bloße Einnehmen eines emotionalen Gesichtsausdrucks entsprechende Gefühle hervorrufen kann. Nach der Einschätzungstheorie beinhaltet jedoch selbst dieser Prozess eine implizite Bewertungskomponente: Der Körper interpretiert die propriozeptiven Signale des Gesichts als Hinweis auf einen bestimmten emotionalen Zustand, was einer Form der somatischen Bewertung entspricht.

Bewertungsprozesse in verschiedenen Kontexten

Die Bedeutung von Bewertungsprozessen für die Emotionsentstehung lässt sich in verschiedenen Kontexten beobachten:

Kulturelle Unterschiede

Kulturen unterscheiden sich darin, wie bestimmte Situationen typischerweise bewertet werden. In individualistisch geprägten Gesellschaften mag eine öffentliche Kritik primär als Bedrohung des Selbstwerts bewertet werden und Scham auslösen. In kollektivistisch orientierten Kulturen könnte dieselbe Situation eher als Bedrohung der Gruppenzugehörigkeit bewertet werden und zu anderen emotionalen Reaktionen führen.

Entwicklungspsychologische Perspektive

Kinder entwickeln mit zunehmendem Alter immer differenziertere Bewertungssysteme. Ein Dreijähriges mag Trauer empfinden, wenn sein Spielzeug kaputt geht, kann aber noch nicht die komplexen Bewertungen vornehmen, die für Emotionen wie Reue, Stolz oder Schuld nötig sind. Diese “sekundären” Emotionen setzen Selbstreflexion und die Fähigkeit voraus, Ereignisse im Kontext sozialer Normen zu bewerten.

Psychopathologie

Psychische Störungen lassen sich oft als Muster dysfunktionaler Bewertungsprozesse verstehen. Bei Angststörungen werden neutrale Situationen systematisch als bedrohlich bewertet. Depression beinhaltet negative Bewertungen der eigenen Person, der Zukunft und der Welt. Die kognitive Verhaltenstherapie zielt daher gezielt auf die Veränderung dieser Bewertungsmuster ab.

Ein integratives Verständnis

Ein modernes Verständnis von Emotionen muss die verschiedenen Ebenen der Bewertung integrieren. Von ultraschnellen, unbewussten neuronalen Prozessen bis hin zu komplexen, bewussten Reflexionen bilden Bewertungen ein Kontinuum, das unsere emotionale Erfahrung strukturiert. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass diese Prozesse nicht linear ablaufen, sondern in komplexen Rückkopplungsschleifen miteinander interagieren.

Betrachten wir das Beispiel einer beruflichen Präsentation:

  1. Marina bereitet sich auf eine wichtige Präsentation vor. Bereits beim Gedanken daran verspürt sie ein flaues Gefühl im Magen und leichte Angst.
  2. Unbewusste Bewertung: Ihr limbisches System hat aufgrund früherer Erfahrungen die Situation als potenziell bedrohlich kategorisiert (soziale Bewertung, Versagensrisiko).
  3. Primäre bewusste Bewertung: “Diese Präsentation ist wichtig für meine Karriere. Wenn ich versage, könnte das negative Konsequenzen haben.”
  4. Sekundäre bewusste Bewertung: “Ich habe mich gut vorbereitet und ähnliche Situationen schon erfolgreich gemeistert.”
  5. Metakognitive Bewertung: “Meine Nervosität ist normal und kann sogar hilfreich sein, um fokussiert zu bleiben.”

In diesem Szenario wirken unbewusste und verschiedene Ebenen bewusster Bewertungen zusammen, um Marinas emotionale Reaktion zu formen. Die anfängliche unbewusste Angstreaktion wird durch bewusste Neubewertungen moduliert, was zu einer komplexen emotionalen Erfahrung führt, die Elemente von Angst, Aufregung und Zuversicht enthalten kann.

Schlussfolgerungen für Theorie und Praxis

Das Verständnis, dass Emotionen das Resultat von Bewertungsprozessen sind, hat weitreichende Implikationen:

  1. Theoretisch ermöglicht es eine Integration verschiedener Emotionstheorien, von evolutionären Ansätzen bis hin zu sozial-konstruktivistischen Perspektiven, indem es erklärt, wie angeborene Bewertungstendenzen und kulturell erlernte Interpretationsmuster zusammenwirken.
  2. Praktisch eröffnet es wirksame Interventionsmöglichkeiten in der Psychotherapie, indem es aufzeigt, dass emotionales Leiden durch die Veränderung dysfunktionaler Bewertungsmuster gelindert werden kann.
  3. Individuell ermächtigt es Menschen, ihre emotionalen Reaktionen besser zu verstehen und zu regulieren, indem sie sich ihrer Bewertungsprozesse bewusster werden.

Die Erkenntnis, dass keine Emotion ohne explizite oder implizite Bewertung entsteht, ist daher nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern hat tiefgreifende praktische Relevanz für psychische Gesundheit, emotionales Wohlbefinden und zwischenmenschliche Beziehungen. Sie bildet das theoretische Fundament für evidenzbasierte psychotherapeutische Ansätze wie die kognitive Verhaltenstherapie und deren Weiterentwicklungen, die gezielt an der Modifikation dysfunktionaler Bewertungsmuster arbeiten.

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