Wie Angehörige bei Zwangsstörungen (nicht) helfen sollten

  • 7:47 min

  • 09 Juli 2025
  • Helmut Wiederschwinger

Einleitung: Zwangsstörungen verstehen

Zwangsstörungen gehören zu den belastendsten psychischen Erkrankungen, unter denen etwa 2-3% der Bevölkerung leiden. Betroffene kämpfen mit aufdringlichen Gedanken (Zwangsgedanken), die starke Ängste auslösen, und mit ritualisiertem Verhalten (Zwangshandlungen), das diese Ängste vorübergehend lindern soll.

Die Erkrankung greift tief in den Alltag ein: Eine Person mit Kontaminationsängsten kann Stunden mit Waschen verbringen, jemand mit Kontrollzwängen prüft dutzende Male Türen und Geräte, andere sind in endloses gedankliches Grübeln verstrickt. Für Angehörige ist es natürlich, helfen zu wollen – aber gerade bei Zwangsstörungen kann gut gemeinte Unterstützung den Zustand paradoxerweise verschlechtern.

Warum? Weil Zwangsstörungen durch einen Teufelskreis aus Angst, ritualisiertem Verhalten und kurzfristiger Erleichterung aufrechterhalten werden. Wenn Angehörige in diesen Kreislauf einsteigen, verstärken sie ihn ungewollt. Die Therapie von Zwangsstörungen zielt darauf ab, diesen Kreislauf zu durchbrechen – und dafür braucht es auch die richtige Unterstützung durch das Umfeld.

Grundprinzip: Unterstützen Sie die Person, nicht den Zwang!

Menschen mit Zwangsstörungen brauchen Ihre Unterstützung – aber auf die richtige Weise. Gut gemeinte Hilfe kann oft die Zwänge verstärken, statt sie zu verringern. Dieser Leitfaden zeigt Ihnen, welche häufigen Unterstützungsfallen Sie vermeiden sollten.

Unterstützungsfalle 1: Beruhigung und Rückversicherung geben

Was ist das?
Sie versichern dem Betroffenen, dass seine Ängste unbegründet sind oder nicht eintreten werden. Zum Beispiel: “Nein, du hast den Herd wirklich ausgeschaltet” oder “Es ist sicher nichts Schlimmes passiert”.

Beispiel:
Jana hat Angst, versehentlich jemanden verletzt zu haben. Sie fragt ihren Partner Daniel mehrmals täglich: “Bin ich vorhin jemandem zu nahe gekommen? Habe ich jemanden angefahren?” Daniel beruhigt sie stets: “Nein, es ist nichts passiert. Ich habe genau hingesehen.” Jana fühlt sich kurz besser. Doch schon eine Stunde später kommen die gleichen Fragen wieder.

Warum schadet das?
Diese Beruhigungen verschaffen zwar kurzzeitig Erleichterung, verstärken aber langfristig den Zwang. Der Betroffene lernt nicht, mit seiner Unsicherheit umzugehen, sondern wird abhängig von Ihrer Bestätigung. Die Angst kehrt schnell zurück und erfordert immer mehr Rückversicherung.

Unterstützungsfalle 2: Vermeidung unterstützen

Was ist das?
Sie akzeptieren oder unterstützen sogar, dass der Betroffene bestimmte Situationen, Orte oder Gegenstände meidet, die Zwangsgedanken auslösen könnten.

Beispiel:
Markus hat Angst vor Keimen in öffentlichen Gebäuden. Seine Frau Claudia übernimmt für ihn alle Behördengänge. Sie holt seine Post vom Briefkasten im Mehrfamilienhaus. Sie bezahlt im Restaurant, damit er kein Geld anfassen muss. Mit der Zeit meidet Markus immer mehr Orte. Claudia übernimmt immer mehr Aufgaben für ihn.

Warum schadet das?
Jede Vermeidung bestätigt dem Gehirn: “Diese Situation ist tatsächlich gefährlich!” Dies verstärkt die Angst und den Zwang. Der Betroffene lernt nicht, dass er mit der gefürchteten Situation umgehen kann.

Unterstützungsfalle 3: An Ritualen teilnehmen

Was ist das?
Sie helfen bei Zwangsritualen wie Waschen, Ordnen, Zählen oder Überprüfen mit oder führen diese für den Betroffenen durch.

Beispiel:
Paul hat Angst vor Einbrechern. Er muss abends alle Fenster und Türen nach einem strengen Muster kontrollieren. Seine Tochter Emma muss dabei sein und bestätigen: “Das Fenster ist zu.” Emma muss genau die richtigen Worte sagen. Bei Abweichungen muss Paul von vorne beginnen. Die Kontrolle dauert inzwischen über eine Stunde. Emma kommt oft zu spät ins Bett.

Warum schadet das?
Die Teilnahme an Ritualen bestätigt dem Betroffenen, dass diese notwendig sind. Die Zwänge werden dadurch verstärkt und ausgeweitet, nicht reduziert.

Unterstützungsfalle 4: Bei Entscheidungen übermäßig helfen

Was ist das?
Sie treffen für den Betroffenen Entscheidungen oder unterstützen ihn bei einfachen Aufgaben, weil er Angst hat, Fehler zu machen.

Beispiel:
Sandra hat Angst, falsche Entscheidungen zu treffen. Ihr Mann Thomas wählt für sie Kleidung aus. Er entscheidet, was sie essen. Er plant ihre Freizeit. Anfangs waren es nur wichtige Entscheidungen. Mittlerweile fragt Sandra bei jeder Kleinigkeit: “Ist das richtig so?” Thomas ist erschöpft, immer entscheiden zu müssen.

Warum schadet das?
Der Betroffene muss lernen, Unsicherheit auszuhalten und das Risiko einer “nicht perfekten” Entscheidung einzugehen. Nur so kann er seine Angst vor Unsicherheit überwinden.

Unterstützungsfalle 5: Den Alltag an die Zwänge anpassen

Was ist das?
Sie verändern Ihre Arbeit, Ihr Familienleben oder Ihre täglichen Routinen wegen der Zwänge des Betroffenen.

Beispiel:
Michael hat Angst vor bestimmten “unglücksbringenden” Zahlen. Seine Familie darf keine Termine an Tagen mit diesen Zahlen planen. Sie dürfen bestimmte Straßen nicht befahren. Die Kinder müssen ihre Freunde an bestimmten Tagen absagen. Das Essen darf nur zu bestimmten Uhrzeiten stattfinden. Die gesamte Familie plant ihr Leben um Michaels Zahlensystem herum.

Warum schadet das?
Dies gibt den Zwängen zu viel Macht und Raum. Die Familie wird isoliert, und normale Aktivitäten werden eingeschränkt. Der Zwang bestimmt das Leben aller Beteiligten.

Unterstützungsfalle 6: Verantwortlichkeiten abnehmen

Was ist das?
Sie übernehmen Aufgaben, die der Betroffene selbst erledigen könnte, aber wegen seiner Zwänge vermeidet oder nur mit großem Zeitaufwand schafft.

Beispiel:
Lisa hat Angst, durch das Berühren von Müll krank zu werden. Ihr 12-jähriger Sohn Tim muss allen Müll entsorgen. Er muss die Mülleimer leeren, den Abfall sortieren und den Müll zur Tonne bringen. Er kommt oft zu spät zur Schule, weil er morgens die Müllroutinen für seine Mutter erledigen muss.

Warum schadet das?
Der Betroffene verliert Selbstständigkeit und das Gefühl der eigenen Wirksamkeit. Die Zwänge breiten sich aus, weil sie keine natürlichen Grenzen erfahren. Der Helfende wird u. U. in seinem Leben und seiner Entfaltung eingeschränkt.

Unterstützungsfalle 7: Ungewöhnliche Einschränkungen akzeptieren

Was ist das?
Sie fügen sich merkwürdigen Regeln, die durch den Zwang entstehen. Sie akzeptieren z.B., dass bestimmte Bereiche nicht mehr betreten werden dürfen oder alltägliche Dinge nur unter speziellen Bedingungen stattfinden können.

Beispiel:
Robert hat Angst vor Verunreinigung durch Außenkleidung. In seinem Haus gibt es eine strenge Trennung von “sauberen” und “kontaminierten” Bereichen. Niemand darf mit Straßenschuhen über eine bestimmte Linie treten. Kleidung von draußen muss in der Garage ausgezogen werden. Besucher müssen Schutzkleidung anziehen. Die Familie hat kaum noch Besuch, weil die Regeln so streng sind.

Warum schadet das?
Roberts Angst wird als berechtigt behandelt und damit verfestigen sich die Zwänge.Es normalisiert die Zwänge und macht sie zu einem festen Bestandteil des Zusammenlebens, statt sie als behandlungsbedürftiges Problem zu erkennen. Dabei isoliert sich die Familie und die merkwürdigen Regeln werden immer mehr als normal empfunden.

Ein Beispiel aus dem Alltag: Familie Huber

Die Geschichte von Familie Huber zeigt, wie gut gemeinte Unterstützung zu einer Verschlechterung führen kann:

Marie leidet seit einem Jahr unter zunehmenden Kontaminationsängsten. Anfangs wusch sie sich nur etwas häufiger die Hände. Ihr Mann Thomas wollte ihr helfen und begann, immer neue Seifen und Desinfektionsmittel zu besorgen (Teilnahme am Ritual). Als Marie Angst bekam, dass Lebensmittel kontaminiert sein könnten, übernahm Thomas das Einkaufen und die Essenszubereitung (Verantwortlichkeiten abnehmen).

Wenn Marie in Panik geriet und fragte: “Glaubst du, ich könnte mich angesteckt haben?”, beruhigte Thomas sie stets: “Nein, bestimmt nicht, du hast alles richtig gemacht” (Rückversicherung geben). Marie fühlte sich zunächst erleichtert, doch bald fragte sie immer öfter nach.

Nach sechs Monaten hatte sich die Situation drastisch verschlechtert:

Marie traute sich nicht mehr in öffentliche Verkehrsmittel. Thomas fuhr sie überall hin (Vermeidung unterstützen).
Die Waschküche war zu Maries “Dekontaminationszone” geworden, die andere Familienmitglieder nur nach strengen Regeln betreten durften (Ungewöhnliche Einschränkungen akzeptieren).
Das Ehepaar lud keine Freunde mehr ein, weil dies Maries Ängste verstärkte (Alltag an Zwänge anpassen).
Marie brauchte mehrere Stunden für ihre morgendlichen Reinigungsrituale. Thomas half ihr dabei und kam deshalb selbst regelmäßig zu spät zur Arbeit.

Durch psychotherapeutische Unterstützung wurde klar, dass Thomas’ Unterstützung – so liebevoll sie auch gemeint war – die Zwänge verstärkte und aufrechterhielt. Es wurde auch erkannt, dass Marie lernen musste, ihre Ängste auszuhalten, ohne zu Zwangsritualen zu greifen. Thomas lernte, Marie zu unterstützen, indem er nicht mehr bei den Zwängen half, sondern sie stattdessen ermutigte, kleine Schritte zu wagen und Unsicherheit zu tolerieren.

Nach drei Monaten hatte Marie wieder begonnen, selbst einzukaufen und die Familie konnte wieder Freunde einladen – ein bedeutender Fortschritt auf dem Weg zur Bewältigung ihrer Zwangsstörung.

Wichtige Erkenntnisse für Angehörige:

  1. Ihr Verhalten beeinflusst die Zwänge: Je mehr Sie die oben genannten Unterstützungsfallen vermeiden, desto besser kann der Betroffene mit seiner Erkrankung umgehen lernen.
  2. Familiäre Belastung steigt mit der Beteiligung: Je mehr Sie in die Zwänge eingebunden sind, desto schwieriger wird das Zusammenleben für alle.
  3. Sie können die Therapie unterstützen: Wenn Sie Rückversicherungen und andere problematische Hilfen reduzieren, verbessern Sie die Erfolgsaussichten der Therapie.
  4. Vermeiden Sie Kritik und Wut: Negative Reaktionen verstärken die Symptome und verringern die Motivation des Betroffenen, an seinen Problemen zu arbeiten. Verständnis zeigen, ohne die Zwänge zu unterstützen, ist der beste Weg.

Hinweis: Die richtige Unterstützung ist ein Balanceakt. Wenn Sie dabei Unterstützung benötigen, zögern Sie nicht, sich psychotherapeutische Hilfe zu holen.

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