Die Detektivarbeit in der Therapie: Unbewussten Gedanken und Gefühlen auf der Spur

  • 8:56 min

  • 25 Juni 2025
  • Helmut Wiederschwinger

Wenn die ABC-Analyse ins Stocken gerät – praktische Wege zur Rekonstruktion verborgener mentaler Prozesse

Das Problem der verborgenen Gedanken

In der kognitiven Verhaltenstherapie arbeiten wir häufig mit dem ABC-Modell. Dieses Modell hilft uns, die Zusammenhänge zwischen Ereignissen (A), unseren Gedanken (B) und den daraus folgenden Gefühlen und Verhaltensweisen (C) zu erkennen. Doch was tun, wenn wir unsere Gedanken nicht greifen können?

“Ich weiß einfach nicht, was ich in diesem Moment gedacht habe”, ist ein Satz, den Therapeuten oft hören. Manche Gedanken laufen automatisch ab. Andere sind so schmerzhaft, dass sie verdrängt werden. Manchmal sind sie einfach zu flüchtig.

Methoden zur Rekonstruktion verborgener mentaler Prozesse

1. Vom Gefühl zum Gedanken: Die innere Logik der Emotionen

Jedes Gefühl folgt einer inneren Logik und ist mit bestimmten Gedankenmustern verbunden. Diese Verbindung können wir nutzen.

Fallbeispiel: Maria berichtet, dass sie auf einer Firmenfeier plötzlich heftige Angst verspürte und fluchtartig den Raum verließ. Sie kann sich nicht erinnern, was ihr durch den Kopf ging.

Als wir von ihrem Angstgefühl ausgehen, können wir mögliche Gedanken rekonstruieren: “Was könnte jemand denken, der in dieser Situation Angst empfindet?” Maria erkennt: “Vielleicht dachte ich, dass alle mich beobachten und meine Unsicherheit bemerken. Dass ich versagen werde, wenn ich angesprochen werde.”

Diese typischen Zusammenhänge helfen uns bei der Rekonstruktion unbewusster Gedanken:

Freude:

Gedanken über Gewinn, Bedürfnisbefriedigung oder positive Ereignisse, die das eigene Wohlbefinden steigern. Gedanken über Erfolge, angenehme Erfahrungen oder erfüllte Wünsche.

Stolz:

Gedanken über positive Selbstbewertung basierend auf eigenen Leistungen, Fähigkeiten oder Eigenschaften. Gedanken über Anerkennung, Erfolg und den Wert der eigenen Person. Oft verbunden mit dem Wunsch, die erreichten Erfolge zu bestätigen oder zu zeigen.

Hochmut:

Gedanken zu übersteigerter positive Selbstbewertung, oft verbunden mit der Abwertung anderer. Gedanken darüber, sich anderen überlegen zu fühlen, eigene Leistungen oder Eigenschaften als besonders herausragend zu sehen und die eigene Bedeutung zu betonen. Häufig auch gedankliche Rechtfertigungen für eigenes Verhalten oder Status.


„Ich bin besser als die meisten hier, sie können nicht mit mir mithalten.“
„Nur ich habe das nötige Talent, um diese Aufgabe zu bewältigen.“
„Andere verstehen das nicht so gut wie ich.“
„Ich verdiene diese Anerkennung viel mehr als die anderen.“

Trauer:

Gedanken über Verlust von Menschen, Dingen oder Zuständen, oft begleitet von inneren Bildern des Geschehenen und dem Bewerten von Ursachen. Dabei können auch Gedanken auftauchen, die auf Schuldzuweisungen an andere oder sich selbst abzielen, sowie Vorstellungen von Gegenmaßnahmen oder Wiedergutmachung, um den Verlust rückgängig zu machen oder zu mildern.

„Es ist so unfair, dass er nicht mehr da ist.“
„Hätte ich doch früher geholfen, wäre das nicht passiert.“
„Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.“
„Wie kann ich das wiedergutmachen?“

Angst:

Gedanken über Bedrohung, Überforderung oder Verlust von subjektiv Wichtigem. Diese schließen oft Szenarien möglicher Gefahren ein, darunter auch die gedankliche Vorbereitung auf Verteidigung oder Flucht. Es können Strategien entwickelt werden, um die wahrgenommene Bedrohung zu neutralisieren oder abzuwenden.

„Was, wenn ich den Job verliere und keine neue Stelle finde?“
„Wenn ich das sage, werde ich ausgelacht.“
„Ich muss vorsichtig sein, sonst werde ich verletzt.“
„Was werden die Leute über mich denken?“

Scham:

Gedanken über negative Selbstbewertung und das Sichtbarwerden persönlicher Makel. Enthalten sind oft Überlegungen zur Vermeidung von Kritik oder Ablehnung durch andere, sowie gedankliche Rechtfertigungen oder Strategien, um den beschädigten Selbstwert zu schützen oder wiederherzustellen. Dabei können auch Vorstellungen entstehen, andere für das eigene Versagen verantwortlich zu machen.

„Alle merken, dass ich versagt habe.“
„Ich bin einfach nicht gut genug.“
„Wenn ich ehrlich bin, werde ich abgelehnt.“
„Das ist nicht meine Schuld, die Umstände sind schuld.“
„Irgendwann wird sie merken, dass ich ein Looser bin.“

Ärger:

Gedanken über Grenzverletzungen oder Missachtung eigener Bedürfnisse. Diese umfassen Bewertungen der Handlung anderer als ungerecht oder respektlos, sowie gedankliche Rechtfertigungen für mögliche Gegenreaktionen. Dabei wird häufig überlegt, wie man sich zur Wehr setzen oder die Situation korrigieren kann.

„Er hat meine Arbeit ohne Rücksprache verändert.“
„Das ist total respektlos mir gegenüber.“
„Ich sollte ihm klarmachen, dass das nicht geht.“
„Ich selbst würde mich nicht so verhalten wie er.“
„Ich habe jedes Recht, mich zu wehren.“

Schuld:

Gedanken über Verletzung der Rechte und Ansprüche anderer, nicht selten verbunden mit negativen Gedanken über sich selbst oder andere, wenn Verantwortung als ungerecht verteilt erlebt wird.

„Ich hätte besser aufpassen müssen.“
„Es tut mir leid, dass ich sie verletzt habe.“
„Wie kann ich den Schaden wieder gutmachen?“
„War das wirklich nur mein Fehler oder auch deiner?“

Eifersucht:

Gedanken über drohenden Verlust von Zuneigung oder Wertschätzung durch eine wichtige Bezugsperson zugunsten einer dritten Person. Diese beinhalten häufig Vorstellungen von Verletzung durch die dritte Person oder der eigenen Bezugsperson, Szenarien von Konkurrenz und Abwehr, sowie gedankliche Strategien, um den vermeintlichen “Angreifer” auszuschalten oder zurückzudrängen.

„Wenn sie ihm so viel Aufmerksamkeit schenkt, liebt sie mich dann noch?“
„Er will mich verlassen, weil sie besser aussieht.“
„Ich muss aufpassen, dass ich nicht ausgetauscht werde.“
„Ich darf nicht zulassen, dass sie ihn beeinflusst.“

Neid:

Gedanken über ungerecht empfundene Benachteiligung im Vergleich zu anderen. Darin kommen häufig Bewertungen vor, die andere als unverdient bevorzugt ansehen, sowie Überlegungen, wie man den Vorteil der anderen Person minimieren, aber auch selbst erlangen kann. Es entstehen gedankliche Konflikte, in denen die Handlungsmöglichkeiten gegen den “Begünstigten” abgewogen werden.

„Warum hat sie die Beförderung bekommen und nicht ich, obwohl ich härter arbeite?“
„Er hat das Auto nur, weil seine Eltern ihm Geld geben.“
„Ich wünschte, ich könnte das haben, was sie hat.“
„Er hat den Erfolg nur geschenkt bekommen, nicht selber verdient.“

2. Von der Grundüberzeugung zum situativen Gedanken

Tiefliegende Überzeugungen über uns selbst (B1) geben Hinweise auf situative automatische Gedanken (B2).

Fallbeispiel: Thomas fühlt sich schlecht, nachdem seine Präsentation bei der Arbeit gut, aber nicht außergewöhnlich gut ankam. In der Therapie haben wir bereits seine Grundüberzeugung “Ich bin nur wertvoll, wenn ich herausragende Leistungen erbringe” identifiziert.

Diese hilft uns, seine situativen Gedanken zu rekonstruieren: “Die Präsentation war mittelmäßig – also bin ich mittelmäßig”, “Mein Chef wird enttäuscht sein”, “Ich hätte mehr leisten müssen”.

3. Vom Verhalten auf das Gefühl schließen

Unsere Handlungen spiegeln oft unsere inneren Zustände wider.

Fallbeispiel: Lena kann nicht benennen, was sie fühlt, wenn ihr Partner bei gemeinsamen Abendessen ständig sein Smartphone checkt. Sie bemerkt aber, dass sie danach immer besonders viel im Haushalt erledigt und ihren Partner dabei ignoriert.

Dieses Verhalten – übertriebenes Beschäftigtsein und emotionaler Rückzug – deutet auf Gefühle der Kränkung und des Ärgers hin, die Lena nicht direkt ausdrücken kann.

4. Die Körpersignale als Wegweiser

Unser Körper spricht oft deutlicher als unser Bewusstsein.

Fallbeispiel: Martin berichtet von Verspannungen im Nacken und geballten Fäusten während eines Gesprächs mit seinem Vorgesetzten. Er glaubte, “ganz ruhig” gewesen zu sein. Die Körpersignale verraten jedoch unterdrückten Ärger – was uns hilft, die entsprechenden Gedanken zu identifizieren: “Er übersieht wieder meine Leistung”, “Das ist unfair”.

5. Die Bedürfnisperspektive nutzen

Hinter unseren emotionalen Reaktionen stehen oft unerfüllte oder bedrohte psychische Grundbedürfnisse.

Denn selbst paradox erscheinende Verhaltensweisen lassen sich als Schutzmechanismen für unsere psychischen Grundbedürfnisse verstehen. In der Therapie begegnen uns häufig Verhaltensweisen, die auf den ersten Blick irrational wirken.

Fallbeispiel: Markus sabotiert regelmäßig berufliche Chancen, indem er kurz vor wichtigen Terminen krank wird oder unvorbereitet erscheint. Sein Verhalten erscheint selbstschädigend und unverständlich. Bei näherer Betrachtung wird jedoch sichtbar, dass dieses “unsinnige” Verhalten sein Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstwertschutz bedient.

Durch die Identifikation seiner verletzten Grundbedürfnisse – in diesem Fall das Bedürfnis nach Selbstwertschutz und Kontrolle – können wir die zugrundeliegenden Gedanken rekonstruieren: “Wenn ich mich wirklich anstrenge und dann scheitere, beweise ich meine Wertlosigkeit. Besser, ich gebe nicht mein Bestes, dann kann ich mir sagen: Ich hätte es geschafft, wenn ich es versucht hätte.” Solche Mechanismen bleiben oft unbewusst, erklären aber die innere Logik selbst “blinden” Verhaltens und helfen, die in der ABC-Analyse fehlenden Gedanken zu erschließen.

Fallbeispiel: Sarah reagiert sehr empfindlich, wenn Gruppenmitglieder in ihrem Projekt nicht auf ihre Vorschläge eingehen. Sie kann zunächst nicht benennen, was sie fühlt oder denkt. Als wir ihre grundlegenden Bedürfnisse explorieren, wird deutlich: Ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung ist sehr stark ausgeprägt. Von dort aus können wir rekonstruieren: “Die anderen nehmen mich nicht ernst” (Gedanke), was zu Gefühlen von Scham und Kränkung führt.

6. Ressourcenaktivierung als Schlüssel

Manchmal hilft der Blick auf positive Erfahrungen, um zu verstehen, was uns schwerfällt.

Fallbeispiel: Julia kommt nicht an ihre Gedanken und Gefühle heran, wenn sie vor Gruppen sprechen soll. Wir fokussieren auf eine Situation, in der sie sich beim Sprechen vor anderen wohl fühlte – mit ihrer Nichte beim Vorlesen. Der Kontrast macht deutlich: In Leistungssituationen aktivieren sich bei ihr Gedanken wie “Ich werde beurteilt und könnte versagen”.

7. Körperreaktionen/Körpersymptome als Hinweisgeber

Unser Körper reagiert oft automatisch auf innere Gedanken und Gefühle, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Bestimmte körperliche Reaktionen können wichtige Hinweise darauf geben, welche Gedanken oder inneren Prozesse gerade aktiv sind.

Wenn Sie in einer Situation die Faust ballen oder sich angespannt fühlen, kann das darauf hindeuten, dass innere Wut oder Ärger vorhanden ist. Diese körperliche Anspannung spiegelt oft den Wunsch wider, sich zu verteidigen oder gegen etwas vorzugehen.

Ein schneller Herzschlag oder ein Druckgefühl in der Brust oder im Bauch kann ein Zeichen von Angst sein. Der Körper bereitet sich in solchen Momenten häufig auf eine mögliche Gefahr vor und signalisiert Alarmbereitschaft.

Verspannungen im Nacken- oder Schulterbereich können auf Stress oder Überforderung hinweisen, oft begleitet von Gedanken über Druck oder Kontrollverlust.

Ein flaues Gefühl im Magen oder Übelkeit kann mit Sorgen oder Unsicherheit verbunden sein, etwa wenn innere Zweifel anstehende Entscheidungen belasten.

Erröten oder Hitzegefühle im Gesicht treten häufig bei Schamgefühlen auf, wenn unangenehme Gedanken über eigene Fehler oder negative Selbstbewertungen präsent sind.

Zittern oder Muskelzucken kann auf innere Unruhe oder nervöse Anspannung hinweisen, wenn zum Beispiel Unsicherheit oder Angst dominieren.

Fazit: Die Entdeckungsreise zum verborgenen Selbst

Die Rekonstruktion unbewusster Gedanken und Gefühle gleicht einer detektivischen Arbeit. Sie erfordert Geduld und verschiedene Zugänge. Das Schöne an dieser Arbeit: Mit jeder Entdeckung wächst die Selbsterkenntnis und damit die Möglichkeit zur Veränderung.

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