Was ist transdiagnostische Verhaltenstherapie (TKVT)?

Transdiagnostische Verhaltenstherapie: Den gemeinsamen Kern psychischer Probleme verstehen und behandeln

Stellen Sie sich vor, statt viele einzelne Feuer in einem Haus zu löschen, suchen Sie nach der einen defekten Stromleitung, die immer wieder Brände verursacht. Genau das ist die Grundidee der transdiagnostischen Verhaltenstherapie. Anstatt einzelne psychische Störungsbilder wie Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Persönlichkeitsprobleme – die ja oft auch gleichzeitig auftreten – separat und nacheinander zu behandeln, rückt die TKVT die Gemeinsamkeiten in den Fokus, die “hinter” diesen verschiedenen Problemen liegen.

Der Kern des transdiagnostischen Zugangs ist die Erkenntnis, dass vielen unterschiedlichen psychischen Beschwerden ähnliche psychologische Mechanismen zugrunde liegen. Diese sogenannten transdiagnostischen Mechanismen sind wie tief verwurzelte Muster im Denken, Fühlen und Handeln, die, einmal aktiviert, zur Entstehung und Aufrechterhaltung verschiedenster Symptome beitragen können. Man kann sie sich wie Motoren vorstellen, die unterschiedliche Arten von Leid antreiben. Da oft ein oder mehrere dieser Mechanismen für die Ausbildung verschiedener Störungsbilder verantwortlich sind, ist eine Behandlung, die direkt an diesen Mechanismen ansetzt, oft effizienter und systematischer als die Behandlung jeder einzelnen psychischen Erkrankung oder Problematik für sich.

Was sind transdiagnostische Mechanismen?

Diese Mechanismen sind vielfältig und oft eng miteinander verwoben. Hier einige der wichtigsten, die über verschiedene Störungsbilder hinweg eine Rolle spielen:

  1. Probleme in der Regulation von Emotionen: Dies ist ein ganz zentraler Punkt. Wenn starke Gefühle wie Wut, Trauer, Scham oder Angst hochkommen, fällt es schwer, damit konstruktiv umzugehen. Betroffene fühlen sich ihren Emotionen oft ausgeliefert, versuchen sie krampfhaft zu unterdrücken oder durch problematische Verhaltensweisen wie übermäßiges Essen, Substanzkonsum, Selbstverletzung oder sozialen Rückzug zu “managen”. Die Unfähigkeit, Emotionen zu verstehen, zu akzeptieren und zu beeinflussen, kann so den Boden für verschiedenste psychische Probleme bereiten.
  2. Vermeidungstendenzen (situativ, gedanklich, emotional): Ein sehr verbreiteter Mechanismus. Menschen neigen dazu, Situationen, Gedanken, Erinnerungen oder Gefühle zu vermeiden, die unangenehm sind oder Angst auslösen. Das kann kurzfristig Erleichterung bringen, hält aber langfristig die Probleme aufrecht und schränkt das Leben massiv ein. Beispiele sind das Vermeiden sozialer Kontakte aus Angst vor Bewertung, das Unterdrücken belastender Gedanken oder das Vermeiden körperlicher Anstrengung aus Angst vor Paniksymptomen. Auch Sicherheitsverhalten (z.B. immer ein Handy dabeihaben, nur in Begleitung das Haus verlassen) ist eine subtile Form der Vermeidung.
  3. Grübeln und repetitive negative Gedanken: Gedanken kreisen unaufhörlich um Sorgen, Fehler der Vergangenheit oder mögliche zukünftige Katastrophen. Es ist wie ein Karussell im Kopf, das sich nicht abstellen lässt, Energie raubt und die Stimmung drückt. Dieses Gedankenkreisen kann sich als depressive Grübelei, als sorgenerfülltes Gedankenkarussel bei Ängsten oder als quälende Zweifel bei Zwängen zeigen.
  4. Katastrophisierendes Denken: Hierbei werden neutrale oder leicht negative Situationen und Gedanken automatisch als extrem bedrohlich oder als Vorboten einer Katastrophe interpretiert. Ein kleiner Fehler bei der Arbeit wird zum Beweis der eigenen Unfähigkeit, ein leichtes Herzklopfen zum Anzeichen eines Herzinfarkts. Dies heizt Ängste an und kann zu Panik oder starker Verzweiflung führen.
  5. Aufmerksamkeitsverzerrungen: Die Aufmerksamkeit wird unbewusst und selektiv auf bestimmte Reize gelenkt, meist solche, die zu den eigenen Befürchtungen passen. Menschen mit sozialen Ängsten achten übermäßig auf Anzeichen von Ablehnung, depressive Menschen filtern negative Informationen heraus und übersehen Positives, und Menschen mit Gesundheitsängsten scannen ihren Körper ständig nach Krankheitssignalen ab.
  6. Selbstwertprobleme: Ein geringes Selbstwertgefühl oder ein instabiles Selbstbild ist ein Nährboden für viele psychische Schwierigkeiten. Negative Überzeugungen über sich selbst (“Ich bin nicht gut genug”, “Ich bin wertlos”) können zu depressiven Verstimmungen, Ängsten vor Kritik und Ablehnung, sozialem Rückzug oder auch zu übermäßiger Leistungsanstrengung führen, um den vermeintlichen Mangel auszugleichen.
  7. Perfektionismus: Der unerbittliche Drang, alles fehlerfrei machen zu müssen und extrem hohe Standards an sich selbst (und oft auch an andere) zu stellen. Dies führt zu ständigem Stress, Angst vor dem Scheitern, Prokrastination (Aufschieben aus Angst, es nicht perfekt zu machen) und kann in Erschöpfungszustände, Depressionen oder Zwangsstörungen münden.
  8. Schlechte Toleranz gegenüber Ungewissheit: Viele Menschen haben große Schwierigkeiten damit, Unsicherheit und Ungewissheit im Leben auszuhalten. Das Bedürfnis, alles kontrollieren und vorhersehen zu wollen, kann zu ständigen Sorgen, zwanghaftem Kontrollverhalten oder der Vermeidung neuer, unvorhersehbarer Situationen führen.
  9. Emotionsgesteuertes Verhalten (Impulsivität): Handlungen werden primär von aktuellen, intensiven Gefühlen geleitet, ohne die langfristigen Konsequenzen zu bedenken. Dies kann sich in Wutausbrüchen, unkontrolliertem Geldausgeben, Substanzmissbrauch oder riskantem Verhalten zeigen. Es ist oft ein Versuch, unangenehme Emotionen kurzfristig zu lindern.
  10. Defizite im Selbstmitgefühl: Die Unfähigkeit, sich selbst gegenüber freundlich, verständnisvoll und nachsichtig zu sein, besonders in schwierigen Zeiten oder nach Fehlern. Stattdessen herrscht ein harter innerer Kritiker vor, der Selbstvorwürfe macht und Schamgefühle verstärkt. Dies ist ein starker Faktor bei Depressionen und Angststörungen.
  11. Metakognitive Überzeugungen: Das sind Gedanken über das eigene Denken. Problematisch wird es, wenn man z.B. glaubt, dass Grübeln hilft, Probleme zu lösen (obwohl es meist das Gegenteil bewirkt), dass bestimmte Gedanken gefährlich sind und unbedingt kontrolliert werden müssen, oder dass man keine Kontrolle über die eigenen Gedanken hat.
  12. Interpersonelle Schwierigkeiten: Wiederkehrende Probleme in Beziehungen, z.B. Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen, Bedürfnisse angemessen zu äußern, Konflikte zu lösen oder stabile und befriedigende Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Diese können sowohl Ursache als auch Folge anderer psychischer Probleme sein.

Ein Fallbeispiel: Sarahs vernetzte Probleme

Sarah, 28 Jahre alt, fült sich “mit allem überfordert”. Sie berichtet von anhaltender Niedergeschlagenheit, Zukunftsängsten, Schlafstörungen und dem Gefühl, den Anforderungen im Job und Privatleben nicht gewachsen zu sein. Am Wochenende greift sie vermehrt zu Alkohol, um “abzuschalten”.

Eine transdiagnostische Betrachtung würde bei Sarah folgende Mechanismen in den Vordergrund stellen:

  • Ihr Kernproblem scheint eine ausgeprägte Schwierigkeit in der Emotionsregulation zu sein. Negative Gefühle wie Angst, Enttäuschung oder Stress sind für sie kaum auszuhalten und lösen sofort den Impuls aus, etwas dagegen tun zu müssen.
  • Darauf reagiert sie häufig mit Vermeidung: Sie sagt Verabredungen ab, wenn sie sich unsicher fühlt, und schiebt wichtige Aufgaben auf, aus Angst, Fehler zu machen. Auch der Alkohol am Wochenende ist eine Form der emotionalen Vermeidung – ein Versuch, die unangenehmen Gefühle zu betäuben.
  • Ihr Denken ist geprägt von starkem Perfektionismus und einem unerbittlichen inneren Kritiker. Sie setzt sich selbst unter enormen Druck, keine Fehler machen zu dürfen, was ihre Angst vor dem Versagen ständig anfacht.
  • Stundenlanges Grübeln über vergangene Fehler und mögliche zukünftige Kritik lähmt sie und verstärkt ihre negative Stimmung. Sie malt sich oft katastrophisierende Szenarien aus (“Wenn ich diesen Fehler mache, verliere ich meinen Job”).
  • Ihre Intoleranz gegenüber Ungewissheit macht es ihr schwer, entspannt in die Zukunft zu blicken oder neue Herausforderungen anzunehmen. Jede unklare Situation löst massive Sorgen aus.
  • Ihr Selbstwertgefühl ist niedrig, und es mangelt ihr an Selbstmitgefühl. Sie verurteilt sich für jede Schwäche hart, während sie für andere viel Verständnis aufbringt.

In der transdiagnostischen Therapie würde man nun nicht primär “die Depression” oder “die Angst” behandeln, sondern direkt an diesen Mechanismen ansetzen:

  • Sarah würde lernen, ihre Emotionen besser wahrzunehmen, zu verstehen und zu akzeptieren, ohne sofort in Vermeidungsverhalten oder Alkoholkonsum flüchten zu müssen.
  • Sie würde Strategien entwickeln, um ihre Grübelspiralen zu unterbrechen und katastrophisierende Gedanken zu hinterfragen und zu relativieren.
  • Die Arbeit an ihren perfektionistischen Ansprüchen und der Aufbau von Selbstmitgefühl wären zentrale Bausteine.
  • Sie würde üben, sich schrittweise angstbesetzten Situationen auszusetzen, um ihre Vermeidungstendenzen abzubauen und ihre Toleranz gegenüber Ungewissheit zu erhöhen.

Die Vorteile des transdiagnostischen Blicks

Werden diese grundlegenden Problemmechanismen in der Therapie verändert, abgeschwächt oder überwunden, können auf diese Weise Symptome in mehreren Störungsbildern gleichzeitig reduziert oder sogar beseitigt werden. Stress nimmt ab und das allgemeine Wohlbefinden kann sich deutlich verbessern.

Weil dieser Ansatz der TKVT die tiefen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Problemen besser berücksichtigt, können oft zeiteffiziente und tiefgreifende Ergebnisse erzielt werden. Es ist, als würde man die Wurzeln eines Unkrauts entfernen, anstatt immer nur die oberirdischen Blätter abzuschneiden. Menschen lernen nicht nur, mit aktuellen Problemen umzugehen, sondern entwickeln Fähigkeiten, die sie auch vor zukünftigen psychischen Schwierigkeiten besser schützen können.

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